Grenzüberschreitende Zustellung und Beweisaufnahme in den Europäischen Mitgliedstaaten

Weisen Verfahren einen Auslandsbezug auf, verzögert und erschwert dies Prozesse oft erheblich, auch innerhalb der Europäischen Union. Die seit dem 01.07.2022 geltenden Neufassungen der EU‑Zustellungsverordnung (EuZVO) und der EU‑Beweisaufnahmeverordnung (EuBVO) sollen zur Vereinfachung und Beschleunigung beitragen.

Verschollene Empfänger

Eines der Kernprobleme der grenzüberschreitenden Zustellung von Schriftstücken liegt gewiss darin, dass der Empfänger im Ausland schlicht nicht auffindbar ist. In diesen Fällen bedienen sich die europäischen Rechtsordnungen ganz unterschiedlicher Mechanismen: In Deutschland wird etwa öffentlich zugestellt, was nichts anderes bedeutet, als dass ein entsprechender Hinweis in eigens dafür vorgesehenen Schaukästen an Amtsgerichten angebracht wird.

In der grenzüberschreitenden Zustellung ist dies freilich keine Option, sodass der Europäische Verordnungsgeber andere Lösungen finden musste und gefunden hat: Ist der Aufenthaltsort des Empfängers unbekannt, so sind die Behörden der Mitgliedstaaten anders als bisher verpflichtet, jedenfalls bei der Ermittlung der Anschrift Unterstützung zu leisten oder die Möglichkeit einer öffentlichen Zustellung aufzuzeigen. Wie diese Unterstützung aussieht, lässt sich einem eigens dafür geschaffenen Gerichtsatlas entnehmen.

Elektronische Zustellung

Völlig zurecht wird oftmals eingewandt, dass man Schriftstücke gerade im Ausland schlicht per E‑Mail „zustellen“ könne. Und auch dies wird mit der Neufassung der Verordnungen ermöglicht. Freilich steht eine solche Zustellung per E‑Mail unter dem Vorbehalt, dass sich der Empfänger zuvor damit einverstanden erklärt hat und die Zustellung des Schriftstücks und das Zustellungsdatum bestätigt. Unerfreulicherweise hat der Verordnungsgeber den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eingeräumt, zusätzliche Anforderungen an eine solche elektronische Zustellung zu stellen, um wohl auch die Sicherheit der Übermittlung zu gewährleisten. Der deutsche Gesetzgeber hat daraufhin die Zustellung per E‑Mail vollständig ausgeschlossen. Entsprechende Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH sind daher bereits jetzt absehbar.

Unmittelbare Zustellung

Im Tagesbetrieb dürfte allerdings ohnedies die unmittelbare Zustellung vorherrschend sein. In der grenzüberschreitenden Variante liegt eine solche unmittelbare Zustellung dann vor, wenn der Zustellungsveranlasser unmittelbar das ausländische Zustellungsorgan mit der Zustellung beauftragt. Was im innerstaatlichen Rechtsverkehr doch als einigermaßen normal gelten dürfte – das Gericht stellt Schriftsätze der Parteien wechselseitig zu – ist im Rechtsverkehr mit dem Ausland schwierig. Es gilt zu beachten, dass eine solche unmittelbare Zustellung nur dann möglich ist, wenn sie auch nach dem Recht des Empfangsstaats zulässig ist.

Vor diesem Hintergrund mag die Ansicht des deutschen Gesetzgebers nachvollziehbar erscheinen, der insbesondere bei eingehenden Zustellungen darauf verweist, dass nur Schriftstücke unmittelbar zugestellt werden können, die funktional solchen entsprechen, für die auch das deutsche Zivilverfahrensrecht eine unmittelbare Zustellung ausdrücklich zulässt. Geboten ist diese deutsche Beschränkung freilich nicht, weil in den betreffenden Fällen ohnedies ein Gerichtsvollzieher die Zustellung übernimmt und so der hoheitliche Charakter der Zustellung unmittelbar erkennbar wird. Für die Zustellung in das Ausland wird nun der bereits erwähnte Gerichtsatlas weitere Hilfestellung geben, der vergleichbare Volten anderer Mitgliedstaaten offenlegen dürfte.

Übersetzungen

Für die praktisch drängendste Frage der Übersetzung bestand schon in der bisherigen Verordnung ein recht ausgeklügeltes System, das nunmehr fortgeschrieben wird. Im Kern verlangt die EuZVO keine Übersetzung der zuzustellenden Schriftstücke und dies selbst dann nicht, wenn klar ist, dass der Empfänger die Sprache der Schriftstücke nicht beherrscht. Der Schutz des Empfängers wird dadurch gewährleistet, dass er entscheidet, ob er die Annahme verweigert oder aber die Zustellung annimmt. Eben jene Optionen werden dem Empfänger dabei auf einem eigens dafür vorgesehenen Formblatt mitgeteilt.

Verweigert der Empfänger die Annahme, wird der Schutz des Zustellungsveranlassers relevant, der im Kern dadurch realisiert wird, dass der Veranlasser sodann auf seine Kosten Übersetzungen einholen kann und die erneute Übersendung mit entsprechender Übersetzung auf den Zeitpunkt der ersten, übersetzungslosen Zustellung zurückwirkt. Das System geht für die Frage der Fristen noch einen Schritt weiter: Für Fristen, die der Zustellungsempfänger einzuhalten hat, gilt der Tag der Zustellung mit Übersetzung, für Fristen des Zustellungsveranlassers der erste Zustellversuch.

Fehlender Zustellungsnachweis kein Prozesshindernis

Es leuchtet unmittelbar ein, dass die wirksame Zustellung etwa der Klage an den Beklagten eine der tragenden Säulen jeden Zivilprozesses sein muss. Wer nun eine Pattsituation erwartet, wenn die gegnerische Partei sich schlicht auf den Prozess nicht einlässt, unterschätzt den Europäischen Verordnungsgeber. Gerichte dürfen ausweislich der Verordnung selbst dann entscheiden, wenn der Gegner überhaupt nicht reagiert.

Die wesentliche Voraussetzung ist dabei, dass das entsprechende Schriftstück nach dem Recht des Empfangsmitgliedstaates ordnungsgemäß zugestellt wurde. Dafür bedarf es freilich eines entsprechenden Nachweises, der in einigen Mitgliedstaaten schlicht nicht zu erlangen ist. Dieser Lapsus einzelner Mitgliedstaaten soll nach der Neufassung der EuZVO nicht zulasten der zustellungspflichtigen Partei gehen: Mitgliedstaaten können ihren Gerichten gestatten, auch dann eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen, wenn kein Zustellungsnachweis zu erlangen ist.

Dazu müssen eine Frist von sechs Monaten abgelaufen sein und „zumutbare Schritte“ unternommen werden, um einen Zustellungsnachweis zu erlangen. Zu diesen „zumutbaren Schritten“ gehört auch ausdrücklich die Verwendung der „modernen Kommunikationstechnologie“; der Empfänger kann also gegebenenfalls über dessen verfügbare Social Media Profile, per E‑Mail und/oder Textnachricht auf das Verfahren hinzuweisen sein.

Grenzüberschreitende Beweisaufnahme

Ist der Prozess erfolgreich eingeleitet, bedarf es oftmals der Beweisaufnahme, die im grenzüberschreitenden Rechtsverkehr durch die EuBVO geregelt wird.

Die EuBVO kannte dabei bislang zwei Wege der Beweisaufnahme. Entweder wurde um Beweisaufnahme im Wege der Rechtshilfe ersucht, bei der das Prozessgericht das Gericht eines anderen Mitgliedstaates um Beweisaufnahme bat, insbesondere um die Vernehmung einer Beweisperson. Oder es fand auf freiwilliger Basis eine unmittelbare Beweisaufnahme statt, bei der das Prozessgericht die Beweisaufnahme im anderen Staat selbst durchführt, also dort einen Augenschein einnimmt oder eine Beweisperson vernimmt.

Für letztere unmittelbare Beweisaufnahme ergeben sich nun Erleichterungen. Da die Voraussetzung der Genehmigung der zuständigen Behörden des jeweiligen Mitgliedstaates in der Vergangenheit doch erhebliche Probleme bereitete, so etwa weil entsprechende Ersuchen oft schleppend oder gar nicht bearbeitet wurden, besteht nunmehr eine Genehmigungsvermutung: Das um Genehmigung ersuchende Gericht kann nach 30 Tagen zunächst eine Erinnerung an die zuständigen Behörden senden. Wird diese Erinnerung nicht binnen 15 Tagen nach Bestätigung des Eingangs beantwortet, wird nunmehr vermutet, dass dem Ersuchen um unmittelbare Beweisaufnahme durch die ausländischen Behörden stattgegeben wurde.

Ebenso wie bei der Zustellung per E-Mail kann moderne Technik sodann auch bei der unmittelbaren Beweisaufnahme eine erhebliche Rolle spielen. Namentlich Videokonferenzen, bei denen das Gericht Beweispersonen unmittelbar befragen und sich zudem insbesondere bei Zeugen auch einen eigenen unmittelbaren Eindruck verschaffen kann, sollen nunmehr den Regelfall einer grenzüberschreitenden Zeugeneinvernahme bilden. Eine solche Einvernahme im Wege der Videokonferenz steht nur unter dem Vorbehalt, dass die notwendige Technik vorhanden sein und dass das Gericht dies für „angemessen“ halten muss.

Schließlich greift der Verordnungsgeber auf das ehrwürdige Rechtsinstitut des Völkerrechtes zurück. Möglich sind mit der Neufassung auch konsularische Vernehmungen in einem anderen Mitgliedstaat in all jenen Fällen, in denen die zu vernehmende Person die Staatsangehörigkeit des ersuchenden Staates hat. Sollen also im Ausland lebende Deutsche durch ein Gericht vernommen werden, müssen diese nicht mehr eigens nach Deutschland anreisen, sondern können auch im Konsulat vernommen werden.

  • Prof. Dr. Thomas Thiede, LL.M.

    • Rechtsanwalt
    • Deutsches und europäisches Kartellrecht / Fusionskontrolle
    • Honorarprofessor der Karl-Franzens-Universität Graz