Die COVID-19-Krise als höhere Gewalt bei der Abwicklung von Bauverträgen

Insbesondere bei Großbauprojekten führen Bauzeitverlängerungen und damit verbundene wirtschaftliche Folgen häufig zu erheblichen Streitigkeiten. Dieser Beitrag soll beleuchten, welche Folgen die Corona-Pandemie als höhere Gewalt bei der Abwicklung von Bauverträgen verursacht.

Das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat hat schon in dem Erlass vom 23.03.2020 darauf hingewiesen, dass die Corona-Pandemie grundsätzlich geeignet sei, den Tatbestand der höheren Gewalt im Sinne von § 6 Abs. 2 Nr. 1c Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen Teil B („VOB/B“) auszulösen. Im Baurecht versteht man unter „höherer Gewalt“ ein betriebsfremdes, von außen durch elementare Naturkräfte oder durch Handlungen dritter Personen herbeigeführtes Ereignis, das nach menschlicher Einsicht und Erfahrung unvorhersehbar ist, mit wirtschaftlich erträglichen Mitteln auch durch die äußerste nach der Sachlage vernünftigerweise zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet oder unschädlich gemacht werden kann und auch nicht wegen seiner Häufigkeit vom Betriebsunternehmer in Kauf zu nehmen ist. Das LG Paderborn hat in einem nun veröffentlichten Urteil vom 25.09.2020 (3 O 261/20) als erstes Gericht die COVID-19-Pandemie als höhere Gewalt bewertet, was nicht überrascht und der gegenwärtigen ganz einheitlichen Meinung entspricht.

Auswirkungen der COVID-19-Pandemie bei der Abwicklung von Bauverträgen

COVID-19-bedingte Störungseinflüsse können bei der Abwicklung von Bauverträgen sowohl den Auftragnehmer als auch den Auftraggeber treffen. So kommen Einwirkungen auf den Bauablauf zulasten des Auftragnehmers in Betracht, weil

  • ein Großteil der Beschäftigten behördenseitig unter Quarantäne gestellt ist und der Auftragnehmer auf dem Arbeitsmarkt oder durch Nachunternehmer keinen Ersatz finden kann,
  • seine Beschäftigten aufgrund von Reisebeschränkungen die Baustelle nicht erreichen können und kein Ersatz möglich ist,
  • der Auftragnehmer kein Baumaterial beschaffen kann, wobei bloße Kostensteigerungen nicht grundsätzlich unzumutbar sind.

Der Auftragnehmer ist für Störungseinflüsse auf den Bauablauf darlegungs- und beweispflichtig. Zudem muss er gem. § 6 Abs. 1 VOB/B dem Auftraggeber die (vermeintliche) Behinderung anzeigen. Diese Behinderungsanzeige muss unverzüglich und schriftlich erfolgen. Dabei muss der Grund der Behinderung eindeutig und klar bezeichnet werden. Es genügt nicht, wenn der betroffene Auftragnehmer unter allgemeinem Verweis auf die Corona-Pandemie pauschale oder etwaige noch zu erwartende Störungen im Bauablauf anzeigt. Die Behinderungsanzeige ist entbehrlich, wenn die hindernden Umstände und deren hindernde Wirkung dem Auftraggeber offenkundig bekannt waren, wobei die Kenntnis des bauleitenden Architekten gem. § 166 Abs. 1 BGB ausreichen dürfte. Der Auftragnehmer sollte sich auf Diskussionen zu einer etwaigen Offenkundigkeit der Störungseinflüsse nicht einlassen und auf eine Behinderungsanzeige unter Berücksichtigung der dargelegten Anforderungen nicht verzichten.

Störungen können auch auf Seiten des Auftraggebers eintreten, beispielsweise, weil die Projektleitung unter Quarantäne gestellt wird. Dabei wäre dann – entsprechend der an die Auftragnehmer gestellten Anforderungen und nach denselben Maßstäben – zu dokumentieren und gegenüber dem Auftragnehmer anzuzeigen, dass und warum die Projektleitung nicht aus dem Homeoffice erfolgen kann, oder dass und warum keine Vertretung organisiert werden kann. Schuldet der Auftraggeber gegenüber dem Auftragnehmer die Bereitstellung des zu bebauenden Grundstücks, können auch dabei Verzögerungen auf Seiten des Auftraggebers eintreten, insbesondere bei Corona-bedingt verspäteter Baugenehmigung oder sonstiger Umstände zur Erlangung der Baureife.

Rechtsfolgen höherer Gewalt

Im Falle höherer Gewalt ist zwischen den zeitlichen und monetären Folgen zu unterscheiden:

Beim Eintritt höherer Gewalt wird die dadurch betroffene Vertragspartei grundsätzlich temporär von ihren vertraglichen Leistungspflichten frei, ohne dass die andere Vertragspartei deswegen Ansprüche herleiten könnte. Nach § 6 Abs. 2 Nr. 1c VOB/B werden Ausführungsfristen für den Auftragnehmer verlängert. Durch diese Bauzeitverlängerung gerät der Auftragnehmer bei Überschreitung der ursprünglich vereinbarten Fertigstellungstermine nicht in Verzug und schuldet auch keine gegebenenfalls vereinbarte Vertragsstrafe oder weitergehenden Verzugsschaden. Bei massiven Einwirkungen der COVID-19-Krise auf den Bauablauf verschieben sich nicht nur die Vertragstermine, sie entfallen vielmehr vollständig. Bei solchen tiefgreifenden Bauablaufstörungen hat der Auftragnehmer einen Anspruch gegen den Auftraggeber auf Vereinbarung gänzlich neuer Vertragstermine.

§ 6 Abs. 2 VOB/B kommt dabei nur zum Tragen, wenn die VOB/B wirksam in den Bauvertrag einbezogen ist. Die VOB/B ist keine gesetzliche Regelung, sondern eine Ausprägung von Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die nur dann gelten, wenn sie wirksam vereinbart wurden (§§ 305 ff. BGB). Handelt es sich um einen BGB-Bauvertrag ohne wirksame Einbeziehung der VOB/B scheidet eine analoge Anwendung des § 6 VOB/B aus, weil es den Regelungen der VOB/B an einer Rechtsnormqualität fehlt und sich eine analoge Anwendung von privatrechtlichen AGB verbietet. Die oben zum VOB/B‑Vertrag dargestellten Bauzeitfolgen lassen sich beim BGB-Bauvertrag aber dann aus § 286 Abs. 4 BGB herleiten, sodass im Ergebnis keine Unterschiede für die zeitlichen Auswirkungen von höherer Gewalt zwischen VOB/B- und BGB-Bauvertrag gelten.

Verschuldensabhängige Schadensersatzansprüche scheiden aus, weil keine der beteiligten Parteien den Ausbruch und die Auswirkung der COVID-19-Pandemie zu vertreten haben.

Nach § 642 Abs. 1 BGB obliegt dem Auftraggeber die Mitwirkung an der Durchführung des Bauvorhabens, beispielsweise durch Bereitstellung des zu bebauenden Grundstücks oder der Ausführungsplanung. Kommt der Auftraggeber damit in Verzug, schuldet er dem Auftragnehmer eine angemessene Entschädigung, wenn der Auftragnehmer während des Mitwirkungsverzugs seine Produktionsmittel (Maschinen, Baustelleneinrichtung, Arbeitskräfte) unproduktiv bereitgehalten hat und damit letztlich keinen Gewinn erwirtschaften konnte. Besonderheit ist, dass dieser Entschädigungsanspruch verschuldensunabhängig ist. Trotz dieses verschuldensunabhängigen Entschädigungsanspruchs dürfte sich der Auftragnehmer bei COVID-19-bedingten Verzögerungen im Zusammenhang mit Mitwirkungshandlungen des Bestellers nicht auf einen Entschädigungsanspruch berufen können, weil

  • sich auch die Termine für die Mitwirkungshandlungen des Auftraggebers verlängern,
  • vielfach auch der Auftragnehmer durch COVID-19-bedingte Störungseinflüsse ohnehin nicht leistungsbereit ist.

Bevor über eine Anpassung des Vertrags auf Grundlage einer Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB nachgedacht wird, sind vorrangig vertragliche Anpassungs- und Force Majeure-Klauseln heranzuziehen. Solche Klauseln zur Risikoverteilung genießen gemeinsam mit gesetzlichen Sonderregelungen Vorrang vor § 313 BGB. Grundsätzlich kann in Ausnahmefällen als ultima ratio die vollständige Auflösung des Vertragsverhältnisses in Betracht kommen. Denn nach den Grundsätzen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage können gravierende Sondersituationen dazu führen, dass ein Festhalten am Vertrag weder zumutbar noch sachgerecht wäre. Diese drastische Folge kommt aber allenfalls dann zum Tragen, wenn durch eine Vertragsanpassung, beispielsweise durch Leistungsänderung oder einer Verschiebung von Zwischen- oder Fertigstellungsterminen, nicht mehr das ursprüngliche Vertragskonstrukt wiederhergestellt werden kann.

Daneben beinhaltet § 6 Abs. 7 S. 1 VOB/B ein Kündigungsrecht für beide Parteien, sofern die Unterbrechung der Bauausführung länger als drei Monate dauert oder wenn sicher feststeht, dass eine Unterbrechung von mehr als drei Monaten unvermeidbar ist.

Vertragsgestaltung künftiger Verträge

Soweit neue Bauaufträge geschlossen werden, sollte der aktuellen Situation durch eine individualvertragliche Regelung im Vertragswerk Rechnung getragen werden. Auftragnehmer werden angesichts der COVID-19-Krise nicht bereit sein, sich auf § 6 Abs. 2 Nr. 1 VOB/B allein zu verlassen, weil höhere Gewalt nicht mehr vorgetragen werden kann, wenn man sich in Kenntnis der Situation auf feste Vertragstermine verständigt hat. Eine solche „COVID-19-Klausel“ könnte im Bauvertrag wie folgt ausgestaltet sein:

„Die Parteien sind sich darüber einig, dass die COVID-19-Pandemie höhere Gewalt darstellen kann, auch soweit diese bei Vertragsschluss bereits bekannt war. Die grundsätzliche Risikoverteilung des Bauvertrages soll nach dem Willen der Parteien aber nicht aufgelöst werden. Störungen im Bauablauf sind auch insoweit im Einzelfall vom Auftragnehmer nachzuweisen. Ein aus der Pandemie etwaig folgendes allgemeines Wagnis wurde als kalkulatorischer Risikozuschlag vom Auftragnehmer bei der Preisvereinbarung bereits berücksichtigt.“

Letztlich verbietet sich eine schematische Bewertung, es kommt vielmehr stets auf die Umstände des Einzelfalles an. Für eine sorgfältige Rechtsberatung mit Weitblick bei der Vertragsgestaltung und für die Bewertung und gegebenenfalls Durchsetzung von Ansprüchen im laufenden Bauprojekt stehen wir mit unserer baurechtlichen Expertise gern zur Verfügung.

  • Jens Ewelt

    • Rechtsanwalt
    • Fachanwalt für Bau- und Architektenrecht
    • Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht