Prozessuale Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren – Kein Eilbeschluss ohne rechtliches Gehör!

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat jüngst die prozessuale Waffengleichheit im einstweiligen Verfügungsverfahren bekräftigt und damit einer durchgesetzten Praxis der Gerichte einen verfassungsrechtlichen Riegel vorgeschoben (vgl. BVerfG, B v. 03.06.2020, 1 BvR 1246/2020). Danach müssen die Argumente des Antragsgegners in einem Eilverfahren auch dann gehört werden, wenn wegen einer besonderen Dringlichkeit eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung ergehen soll.

Gerichtsverfahren können mitunter mehrere Jahre andauern. Diese langen Verfahrenslaufzeiten sind nicht immer nur einer Arbeitsüberlastung der Gerichte geschuldet, sondern können auch durch Fristverlängerungsanträge oder Terminverlegungsanträge der Parteien befeuert werden. Dies ist für die Klagepartei insbesondere dann misslich, wenn eine rechtswidrige Handlung oder Äußerung untersagt werden soll. Denn so lange ein Gericht eine Handlung oder Äußerung nicht (rechtskräftig) untersagt ist, kann der Verletzer wie die Axt im Walde agieren und – um in dem Bilde zu bleiben – sanktionslos Rechte beschlagen. Weil diese Schwebelage dem Verletzten aber häufig nicht zumutbar ist – gerade in äußerungsrechtlichen Angelegenheiten besteht häufig das Bedürfnis, ein schnelles richterliches Verbot zu erreichen –, eröffnet die Zivilprozessordnung (ZPO) in solchen Fällen die Möglichkeit, ein Eilverfahren ohne mündliche Verhandlung durchzuführen, in dem die gerügte Handlung oder Äußerung einstweilen, daher bis zum Schluss der eigentlichen Hauptsacheverhandlung untersagt werden. Um der besonderen Eilbedürftigkeit solcher Anliegen Rechnung zu tragen, hat es sich bei vielen Gerichten eingebürgert, eine begehrte einstweilige Verfügung auch dann ohne mündliche Verhandlung zu erlassen, wenn der Antragsgegner sich noch nicht zu sämtlichen Argumenten des Antragstellers äußern konnte. Es geschieht auch nicht selten, dass ein Gericht bei Erhalt eines Eilantrages kurz zum Hörer greift, um dem Antragsteller rechtliche Hinweise zu erteilen, bzw. um die Erfolgsaussichten eines Antrages zu besprechen.

So weit, so gut. Was aber, wenn der Antragsteller den Sachverhalt unzutreffend, verkürzt oder missverständlich darstellt und der Antragsgegner deshalb mit einem unzutreffenden Unterlassungsgebot belastet wird, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, seine eigenen Argumente in einer mündlichen Verhandlung vorzutragen? Die Folge dessen ist, dass der Antragsgegner bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens zu Unrecht daran gehindert ist, die rechtmäßigen Handlungen oder Äußerungen vorzunehmen. Als Korrektiv für diese „schlechtere“ Parteienstellung kann dem so belasteten Antragsgegner zwar ein Schadensersatzanspruch zustehen; dieser kann den entstandenen Schaden (insbesondere den immateriellen Schaden) allerdings häufig nicht adäquat ersetzen. Das BVerfG hat nun in einem Fall, dem die Untersagung einer Äußerung zugrunde lag, bekräftigt, dass der zulässige Verzicht auf eine mündliche Verhandlung nicht ohne weiteres dazu berechtige, dem Antragsgegner die Gelegenheit zu nehmen, seine Argumente vorzutragen. Nach dem verfassungsrechtlich abgesicherten Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit sei dem Antragsgegner grundsätzlich die Möglichkeit einzuräumen, das für eine gerichtliche Entscheidung Erhebliche vorzutragen, bevor es zu einer Entscheidung kommt. Dies gelte auch dann, wenn das Gericht in einem einstweiligen Verfügungsverfahren wegen einer besonderen Dringlichkeit auf eine mündliche Verhandlung verzichte. Auch ohne mündliche Verhandlung sei dem Antragsgegner grundsätzlich die Möglichkeit zu geben, sich zu äußern („gegebenenfalls auch fernmündlich oder per E-Mail“, BVerfG, B v. 03.06.2020, 1 BvR 1246/2020, Tz. 21). Das Gericht hat ausdrücklich bekräftigt, dass dem Antragsgegner – entgegen der weit verbreiteten Gerichtspraxis – auch ohne mündliche Verhandlung Gehör zu gewähren ist, wenn

  • er sich nicht auf eine entsprechende Abmahnung des Antragstellers im Vorfeld des Verfahrens äußern konnte;
  • der Unterlassungsantrag in anderer Form als in einer vorhergehenden Abmahnung begründet wird, oder;
  • das Gericht nach Lektüre der Antragsschrift dem Antragsteller rechtliche Hinweise erteilt hat.

Einzig für den Fall, dass eine Anhörung des Antragsgegners den Zweck der einstweiligen Verfügung gänzlich vereiteln würde, kann auch ohne die Anhörung entschieden werden. Diese Fälle sind aber recht selten und wohl nur dann einschlägig, wenn es auf einen gewissen Überraschungseffekt ankommt (etwa, weil ansonsten Beweise beiseite geschafft werden würden). Auch dann ist aber zumindest eine zeitnahe mündliche Verhandlung anzuberaumen.

Die Entscheidung des BVerfG ist zu einer äußerungsrechtlichen Streitigkeit ergangen. Es spricht aber sehr viel dafür, dass die Gerichte diese Vorgaben nun auch bei Handlungen umsetzen werden. Soll also etwa eine Wettbewerbsrechts-, Marken-, oder Designverletzung zügig und ohne den zeitlichen Verzug einer mündlichen Verhandlung untersagt werden, muss bereits vorprozessual die Abmahnung so gut vorbereitet zu haben, dass mit identischer Begründung ein Eilantrag auf Unterlassung eingereicht werden kann. Bei den meisten Gerichten kann ein Eilantrag nur binnen eines Monats seit erstmaliger Kenntnis von der gerügten Handlung oder Äußerung gestellt werden. Es gilt also schnell zu handeln, wenn eine nicht länger hinnehmbare Rechtsverletzung ausgemacht wird.