Kartellschadensersatz im LKW-Kartell: Erstes Urteil ergangen

Mit dem Urteil des Landgerichts Hannover (LG) vom 18.12.2017 (Aktenzeichen: 18 O 8/17) ist die erste Entscheidung eines deutsches Gericht zu Schadensersatzansprüche im LKW-Kartell getroffen worden. Die Kartellkammer des LG Hannover hat nun ein Grund-, Zwischen- und Teilurteil verkündet.

Möglichkeit von Kartellschadenersatz

Grundsätzlich steht unmittelbaren und mittelbaren Kunden von Kartellanten ein Anspruch zu, einen durch ein Kartell bedingten Preisaufschlag als Schaden gegenüber allen am Kartell beteiligten Unternehmen als Gesamtschuldner geltend zu machen. Die Voraussetzungen und Anforderungen an die Geltendmachung von Kartellschadensersatzansprüchen sind nicht zu unterschätzen, gerade in Hinblick auf die Darlegung der Kartellbetroffenheit der im Einzelfall erworbenen Produkte sowie des Schadens dem Grund und der Höhe nach. Daher haben sich in der Entscheidungspraxis zugunsten der Kläger Anscheinsbeweise zur Beweiserleichterung etabliert, die durch verschiedene Regelungen der EU-Schadensersatzrichtlinie bestätigt und flankiert werden, die durch die 9. GWB-Novelle (vom 09.06.2017) in das deutsche Recht umgesetzt wurde. Es wird geschätzt, dass betreffend das LKW-Kartell etliche tausend Unternehmen Schadensersatz in Höhe von insgesamt mehreren Milliarden Euro vor deutschen Gerichten und im europäischen Ausland einklagen (werden).

Kartellverfahren der Europäischen Kommission

Mit Beschluss vom 19.7.2016 stellte die Europäische Kommission zum Abschluss des durchgeführten Kartellverfahrens fest, dass die LKW-Hersteller Volvo/Renault, Daimler, Iveco, DAF, MAN sowie Scania (betreffend Scania noch nicht rechtskräftig) sich im Zeitraum von 1997-2010 über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen mit dem Ziel ausgetauscht haben, die Bruttopreise im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zu koordinieren, um Unsicherheit hinsichtlich des Verhaltens der jeweils anderen Hersteller zu beseitigen. Die kollusiven Praktiken hätten ein einziges wirtschaftliches Ziel verfolgt, nämlich die Verfälschung der Preisgestaltung und der üblichen Preisbewegungen für LKW im EWR. Betroffen von diesen Verhaltensweisen seien LKW zwischen 6 t und 16 t (mittelschwere LKW) sowie LKW über 16 t (schwere LKW) gewesen, wobei es sich sowohl um Solofahrzeuge als auch um Sattelzugmaschinen gehandelt habe. Darüber hinaus hätten sich die genannten LKW-Hersteller auch über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien nach den Abgasnormen Euro 3 bis Euro 6 ausgetauscht. Die Kommission hat gegen die genannten LKW-Hersteller Geldbußen in Höhe von insgesamt ca. EUR 3,8 Mrd. verhängt. Scania hat gegen den Bußgeldbeschluss im Dezember 2017 Rechtmittel eingelegt, weshalb ihr Bußgeld noch nicht rechtskräftig ist.

Entscheidung des LG Hannover

Die Stadt Göttingen hatte zwischen den Jahren 2001 und 2010 für insgesamt ca. EUR 2,3 Mio. LKW erworben, die für die Stadtreinigung bzw. die Entsorgungsbetriebe sowie für die Berufsfeuerwehr der Stadt eingesetzt werden. Die geltend gemachten Schadensersatzforderungen der Stadt aufgrund des LKW-Kartells beliefen sich auf EUR 335.000. In ihrer Entscheidung haben die Richter des LG Hannover einen Großteil der Ansprüche der Stadt Göttingen gegen den beklagten LKW-Hersteller MAN „dem Grunde nach“ für gerechtfertigt gehalten. Bei den Erwerbsvorgängen von LKW, die die Stadt Göttingen zwischen 2004 und 2009 für knapp EUR 1,7 Mio. gekauft hatte, sei durch die Kartellabsprachen ein Schaden entstanden. Über die Höhe der Schadensersatzansprüche haben die Parteien weiter zu streiten.

Die Richter setzen sich in dem Urteil mit verschiedenen wesentlichen Aspekten auseinander, die regelmäßig in Kartellschadensersatzverfahren relevant werden, gerade auch in Hinblick auf das LKW-Kartell. Unter anderem geht es um den Einwand der Hersteller, es habe überhaupt keinen Kartellschaden gegeben – und wenn dies der Fall wäre, dann hätten ihn die Abnehmer an ihre eigenen Kunden weitergereicht (sog. „Passing-on“-Einwand). Die sog. „Passing-on“-Einwand von MAN, nach der die Stadt Göttingen einen durch das LKW-Kartell bedingten Preisaufschlag an die Gebührenzahler weitergereicht habe, weil die Müllabfuhr nach dem Kostendeckungsprinzip finanziert würde und somit letztlich der kartellbedingten Schaden auf die Bürger abgewälzt worden wäre, hält das LG Hannover für nicht stichhaltig. Denn der Passing-on-Einwand sei nur anwendbar, wenn die kartellbetroffene Ware vom Käufer an eigene Abnehmer weiterverkauft wird, die miteinander im Wettbewerb stehen, also auf einem „Anschlussmarkt“ tätig sind. Bei der städtischen Müllabfuhr bzw. der Stadtreinigung sei dies anders: Auf dem „Anschlussmarkt“ existiere gerade kein erforderliches Marktgeschehen. Auf der Angebotsseite stehe die städtischen Müllabfuhr und Stadtreinigung in Göttingen nicht mit der Müllabfuhr bzw. Stadtreinigung einer anderen Stadt im Wettbewerb. Und erst recht bestehe zwischen den „Nachfragern“, also den Bürgern, die die Entsorgungs- bzw. Reinigungsleistungen zwangsläufig in Anspruch nehmen, keinen Wettbewerb um Entsorgungs- bzw. Reinigungsleistungen.

MAN konnte die Kartellkammer auch mit einem anderen gewichtigen Argument nicht überzeugen. Wie von allen LKW-Hersteller argumentiert, machte MAN geltend, dass laut EU-Kommission nur Bruttolistenpreise abgesprochen wurden. In der Praxis würde allerdings kein Kunde den Bruttolistenpreis zahlen. Nach der Überzeugung des Gerichts sei aber gerade der überhöhte Listenpreis Ausgangspunkt für Verhandlungen über konkrete Kaufpreise der Kunden. Es geht daher davon aus, dass sich die Preisabstimmung sich auch auf die Nettopreise ausgewirkt habe. Denn zudem sei von der Rechtsprechung ein Anscheinsbeweis dafür anerkannt, dass ein Kartell die Preise steigen lasse – dies sogar bei wettbewerblich weniger gravierenden sog. Quotenkartelle, bei denen sich die Beteiligten über Marktanteile abstimmen. Der Anscheinsbeweis müsse daher erst recht gelten, wenn die LKW-Hersteller ihre Bruttopreislisten und Bruttolistenpreiserhöhungen abstimmen. Durch diese Verhaltensweisen würde der Wettbewerb sogar noch weiterreichender als durch ein Quotenkartell ausgeschaltet.

Vollständig erreichte die Stadt Göttingen ihre Verfahrensziele – in der gewählten Leistungsklage – nicht. Über die Höhe des zu zahlenden Schadensersatzes ist nun in einem separaten Verfahren oder außergerichtlich zu verhandeln.

SPIEKER & JAEGER berät regelmäßig sowohl Kläger als auch Beklagte zu Kartellschadensersatzverfahren. Im LKW-Kartell vertritt die Kanzlei LKW-Käufer.